Beziehungsgeflecht in Tusche und Papier als Fenster zur Seele der Kunst Zur Ausstellung "Pinselzeichnungen" von Lothar Fischer , Orplid in München - Solln Papier ist nicht nur ein Speicher von Ideen und Zeit. Es ist auch ein Objekt, dessen Hermetik sich unter einem begabten Schriftsteller oder Künstler in die Offenheit eines unendlichen visuellen und geistigen Raumes verwandeln kann. Das jedenfalls erlebt man mit fast überraschender Eindringlichkeit bei der Betrachtung der Pinselzeichnungen von Lothar Fischer. Auch wenn man Lothar Fischer gemeinhin als einen der bedeutendsten deutschen Bildhauer der Nachkriegszeit kennt, in der Gesamtbetrachtung nehmen diese bisher nie gezeigten Pinselzeichnungen eine Schlüsselrolle ein. Denn auf keinem anderen Wege kommt man der bildnerischen Phantasie, dem Wesen und dem authentischen und ungefilterten Künstler Lothar Fischer so intensiv auf die Spur wie in der Betrachtung dieser Zeichnungen. Geschwindigkeit und Bewegung kennzeichnen zunächst die Pinselzeichnungen Lothar Fischers. Kein Wunder, denn sie entstanden einst als Übungen, ohne großen Anspruch, ohne das Pathos eines Werkes für die Öffentlichkeit oder der Vorgabe einer Auftragsarbeit. Periphere Zeichnungen, die zwar schlüssig, aber freier und gelöster sind als es bei geplanten Bildern oder Skulpturen je der Fall sein kann. Und genau aus dieser unmittelbaren Direktheit ergibt sich eine Symbiose und wechselseitige Intensivierung vom handwerklichem Können hin zum starken, individuellen und ungefilterten Ausdruck. Aus dieser technischen und assoziativen Virtuosität entstand schließlich etwas, was man heute nur als eine besonders tief gehende Intimität zwischen Künstlerseele und Betrachter bezeichnen kann. In den Motiven ergründete Lothar Fischer dabei den reinen Abstraktionsprozess: Wesen, Geschlechter, Gedanken und Gefühle wurden dabei stets angedeutet, vereinfacht und reduziert – als suche er eine Art symbolische Kraft zu extrahieren, um diese dann dem freien Spiel der Phantasie des Betrachters zu überlassen. Fischers Blätter mit Zeichnungen auf herkömmlichem Packpapier sind bevölkert vom Beziehungsgeflecht. Was Fischer dabei festhält, bildhaft verdichtet, sind Wesen und Geschlechterrollen, Verbindungen und Verhältnisse, Akte, Kontakte, Einigendes und Trennendes, Interaktionen und Berührungen, die uns vor Augen geführt werden. Aber auch in den sinnlichsten Formen zugleich der Ausbruch aus dem Genormten, dem Verbindlichen, dem Vorgeschriebenen. Die Zeichnungen selbst treten offen vor den Betrachter, sie verleugnen nicht, dass sie spontan und impulsiv entstanden sind, wenig abgeklärt in der motivischen Formulierung. Neben dem inhaltlichen Beziehungsgeflecht fällt die Linienführung auf, die fasziniert und den Blick verführt: Es ist kein fotografischer Blick, keine Momentaufnahme, und trotzdem gibt es den sprichwörtlichen Augenblick, der uns das Motiv offenbart. Seine Linien zeichnet Lothar Fischer „kalligraphisch“, das heißt in einem Zug, abhängig von ihrer Atmung und ihrem inneren Rhythmus, ohne sie nachträglich zu verändern oder zu korrigieren. Ein Zusammenspiel zwischen Linie und Fläche bis ins feinste Detail, wobei jede Symmetrie und Regelmäßigkeit harmonisch gebrochen wird. Aber auch diese Strenge bricht Lothar Fischer wieder in spielerischer Weise, wenn er zum Beispiel die Köpfe an den Blatträndern abschneidet und die Körper sich frei in den Umgebungsraum hinein entwickeln lässt. Indem man die Linien auf sich wirken lässt, setzt sich das Bild zusammen. Sie offenbaren Lothar Fischers Ideen, das Herantasten, das subtile Empfinden, die Wege, das Arbeitstempo und vor allem das Denken in Systematik und Variation, ebenso wie den unbeschwerten und produktiven Ausbruch und Ausdruck. Der Variationsreichtum von Stärken, Schwung und Schärfen seiner Linien ist Farbe und Klang. Und tatsächlich haftet seinen Linien Musikalisches an. Man spürt in seinen Werken Aktion und Reaktion, weiten Atem und kurzes Stakkato, Wucht und Unmittelbarkeit, mit pochender Aussagekraft, rhythmisch und nicht syntaktisch gebrochen. Das Ganze ist seelenverwandt zur Lyrik oder dem Jazz, bewegend bis hinauf zu orgastischen Entladungen und dem Fallenlassen in Ruhe und Entspannung. Denn Lothar Fischer holt das Wesen der Zeichnung mit knappem Strich heraus, mit ihm das Wesen der Kunst und obendrein sein eigenes. Ausdruck, nicht Eindruck. Kunst, nicht bloße, gefilterte Sichtbarkeit. Eine Ikonographie von Handwerk und Zeichnung hin zum emphatischen Erlebnis der Kunst als ungefilterter Charakter also. Gehörten die täglichen Fingerübungen einst zum lebendigen Alltag des Bildhauers und Künstlers Lothar Fischer, sind seine Pinselzeichnungen spätestens mit dieser Ausstellung in den Rang einer besonderen, reflexiv-parallelen Version seines bildhauerischen Werkes und der unmittelbaren Expression seiner selbst erhoben. Für Lothar Fischer mögen die Zeichnungen Handwerksübungen und Laboratorium gewesen sein, ein über Jahrzehnte gewachsener Fundus, aus dem er schöpfen konnte - für uns sind sie heute ein entdeckenswerter Schatz und ein Fenster zur Seele seiner Kunst. © Claudia J. Koestler M.A. |