Orplid in Solln Inge Doldinger und Alinde Rothenfußer „Poesie des Alltags“ Solln – „Zum Sehen geboren, zum Schauen bestellt“. Dem Goethe-Wort zu entsprechen ist nicht leicht in dieser schnell-lebigen Zeit, in der es mehr zu sehen gibt denn je, das Schauen aber wenig geübt wird, allein schon weil die Muße fehlt. Die Fotografie, technisch auf hohem Stand wie nie, verführt zum Sehen. Dem Produkt fehlt jedoch meist die zweite Komponente, die Schau dessen, was sich hinter den sichtbaren Formen verbirgt. Denn dann erst, so hat es einst Paul Klee formuliert, wenn das Unsichtbare hinter dem Sichtbaren zu spüren ist, wird Kunst daraus. Nicht nur in der Malerei, auch in der Fotografie. Zwei Frauen, Inge Doldinger, die Ehefrau der Jazz-Größe Klaus Doldinger und mit ihm seit Jahrzehnten von Icking aus um den Globus unterwegs, und Alinde Rothenfußer, Malerin, die mit dem „Orplid“ in Icking und Solln zwei Plätze für die Kunst eingerichtet hat, ist die Fähigkeit zu beidem gegeben: Zu sehen und zu schauen, und das durch die Objektive ihrer Kameras. Was dabei herauskam, wenn die eine wie nebenbei an versteckten Baustellen und Recyclingplätzen, die andere in den Häfen der Welt mit dem Blick auf die Wolken darüber unterwegs war, ist im Orplid in Solln zu betrachten. Unterschiedlicher allerdings könnten Fotos gar nicht sein. Inge Doldingers Arbeiten, wenn auch strikt gegenständlich, könnte man in einer Nische des Konstruktivismus ansiedeln. Zu reinen Abstraktionen, die an Kandinsky ebenso wie an Tapies oder sogar im Fall einer Studie in hellgrün mit rostbrauner Lineatur, an Jackson Pollock denken lassen, ist Alinde Rothenfußer gelangt. Auf Metallflächen mit ursprünglich farbigem Anstrich fand sie Kratzer, Schrunden, Wunden, an denen Wind und Wetter weitergeätzt hatten. Sie fand Ausschnitte, in denen für den, „der mit dem Herzen sieht“, das Geheimnis webt. Nun sind es Flusslandschaften mit Baumrelikten im Nebel, der einen Hauch von Sonne reflektiert und damit in eine rätselvolle Ferne lockt. Zarte Risse, wie in Eis modelliert, werden von einer unirdischen Lichtquelle in ein mildes Rot verfärbt. Dann wieder tanzen Schlangen oder Fische in kräftiger Signalfarbe vor tiefem Himmelblau oder winzige Rostflecken dürfen vor einem roten Schleier, der über Blau fließt, zu einer Blumenwiese werden. In allen Arbeiten ergibt sich ein reizvoller Dialog zwischen einem aus einer unergründlichen Tiefe leuchtenden Hintergrund und Formen oder Strukturen, die miteinander in einem unsichtbaren Energiesystem verbunden sind. Jeder Betrachter mag sich auf seine Weise in sie hineinträumen. Kompletter Szenenwechsel hin zu den Arbeiten von Inge Doldinger. Fetzen von Himmelblau blitzen durch dickbauchige Wolkenungetüme, denen von unten her weiße Schwaden von Rauch oder Wasserdampf entgegenkommen. Hier gibt es nichts Handfestes. Alles ist in unaufhörlicher Verwandlung begriffen. Das nächste „klick“ des Auslösers ergäbe schon wieder ein anderes Bild. Dem hat der Mensch, der glaubt, das Verlässliche zu brauchen, seine Konstruktionen entgegengesetzt: Türme farbiger Container, Lastenkräne aller Formationen mit ihren gelb, grün, rot oder blau eingefärbten Gestängen, Tragarmen oder Widerlagern, die sich mit ihrem harten Licht dem wabernden Wolkengespinst entgegenstellen. Irgendwo über dem Meer an einem weit entfernten Horizont zeigt sich ein Stück Ahnung von der Ewigkeit: Das Abendrot, das seit Äonen die harten, scheinbar stabilen Kopfgeburten mit dem Gesetz des niemals endenden Wandels verbindet. INGRID ZIMMERMANN |